love it, change it or leave it

von Katja Dathe

Bei der Aufstellungsversammlung für die Kandidaten zur Wahl der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte am 8.1.2011 waren 12 Piraten anwesend, 10 von ihnen kandidierten, 9 wurden gewählt.
Eine dieser 9 Gewählten war ich.
Ich habe kandidiert, obwohl ich kein Interesse an Bezirkspolitik hatte, als Nachrücker. Ich war mir sicher, dass wir maximal 3-4 Sitze holen.
Mein Einsatz schien hinreichend unwahrscheinlich.
So habe ich gegen Regel Nummer Eins verstoßen.

Regel Nummer Eins
Egal welch hehre Gründe dich dazu bewegen,
egal wie gering die Wahrscheinlichkeit, dass du gewählt wirst ist,
kandidiere niemals für etwas was du nicht machen willst.

Egal, zu spät, wird schon schief gehen.

9 Monate später kam alles anders.
Die Piraten sind mit 15 Abgeordneten ins Abgeordnetenhaus eingezogen. Blöderweise standen 4 dieser Abgeordneten auch auf unserer Bezirksliste.
Das verkürzte ebendiese Liste von 9 auf 5.  Tolle Wurst.
Aber das war noch nicht alles.
Bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte holten wir 6 Sitze. 5 Piraten für 6 Sitze sind einer zu wenig. Somit war klar, dass ich muss. Nicht antreten wäre Verrat, Betrug, Weltuntergang.
Du hast kandidiert, die haben dich gewählt, da musst du jetzt durch.
Das war dann der Verstoß gegen Regel Nummer Zwei.

Regel Nummer Zwei
Du musst gar nichts. Du kannst wollen. Du kannst können.
Du kannst tun. Du kannst lassen. Aber du musst gar nichts.
Immer wenn du glaubt etwas zu müssen, frag dich ob du es wirklich willst.
Wenn nicht, lass es. Egal was du vorher versprochen hast, egal ob dich der Rest der Welt für einen Verräter, einen Loser oder ein Arschloch hält, lass es.

Egal, zu spät, wird schon nicht so schlimm werden.

Seit 27.10.2011 bin ich Bezirksverordnete und frage mich täglich:
Was mache ich da? Wem nützt das? Ist das Demokratie, oder kann das weg?
Wenngleich mir in Schulzeugnissen eine hohe Auffassungsgabe attestiert wurde, habe ich ein knappes Jahr gebraucht um beschreiben zu können, was diese Bezirksverordnetenversammlung in meinen Augen ist.
Sie ist kein Parlament. Sie ist Verwaltungsorgan. Gut, das war vorher klar.
Sie ist ein Bürokratiemonster. Sie bindet auf sehr perfide Art jede Form bürgerlichen Engagements. Niemand kommt an ihr vorbei.
Jede noch so gute Idee muss, durch sie hindurch, wird in ihr zerrieben, zerredet und dem Parteienproporz geopfert. Sie gründet Ausschüsse und AG’s, sie verteilt krümelweise scheinbare Macht und Kleingeld an Beiräte, Bürgerwerkstätten, Quartiersräte und Kommissionen, wobei sie peinlich darauf achtet, dass keine Form der Bürgerbeteiligung zu einem belastbaren Ergebnis führen wird.

Die Bezirksverordnetenversammlung ist eine Antragskommission.

Um dies einfacher erklären zu können, vertausche ich im Folgenden ein paar Begriffe und bitte vorsorglich die Mitglieder der genannten Piratenorgane um Entschuldigung.
Bürger = Mitglieder
Bezirksverordnetenversammlung = Antragskommission
Bezirksamt = Landesvorstand
Senat von Berlin = Bundesvorstand

Antragskommission
Die Antragskommission wird alle 5 Jahre von den Mitgliedern gewählt.
Die Antragskommission wählt den Landesvorstand.
Die Antragskommission beschließt mit einfacher Mehrheit darüber, welche Anträge an den Landesvorstand gestellt werden und welche nicht.
Die 55 Mitglieder der Antragskommission haben das Recht auf Einsicht in die Akten des Landesverbands.

Landesvorstand
Der Landesvorstand beschließt über die Anträge der Antragskommission.
Der Landesvorstand kann selbstverständlich jederzeit auch Beschlüsse fassen, die nicht von der Antragskommission beantragt wurde. Dabei ist er – bis auf wenige Ausnahmen – an die Beschlüsse und Anweisungen des Bundesvorstands gebunden. Wenn der Bundesvorstand eine Entscheidung des Landesvorstands doof findet, entscheidet er einfach was anderes. Die Entscheidung des Bundesvorstands gilt.

Mitglieder
Mitglieder haben kein Antragsrecht.
Nirgends. Nicht bei der Antragskommission, nicht beim Landesvorstand und beim Bundesvorstand sowieso nicht.

Mal im Ernst. Wer braucht bitte so was?
Wer ist so irre und gibt für eine Antragskommission ca. 600.000 Euro im Jahr aus? Ach ja, Berlin hat 12 Bezirke. Das macht dann ca. 7,2 Millionen Euro im Jahr.

Lasst uns ein Bezirks-Bürger-Liquid-Democracy-System einrichten. Jeder Wahlberechtigte erhält eine Stimme. Die Akkreditierung organisiert das Einwohnermeldeamt. Lasst uns bezahlte Service-Teams für Schulungen & Antragssupport einrichten. Lasst uns nicht stimmberechtigte Accounts für die Verwaltung einrichten, so dass die  Mitarbeiter & Verantwortlichen Anregungen bezüglich Rechtsvorschriften, Verfahren und Formalfoo direkt in den Antragsprozess einbringen können.
Lasst uns meinetwegen alle 5 Jahre 55 bezahlte Pro- Accounts wählen deren Inhaber ein Krönchen im Avatar tragen dürfen.

Aber bitte, lasst uns diese vollkommen überflüssige und kontraproduktive Demokratiesimulation namens Bezirksverordnetenversammlung abschaffen.
Ich behaupte nicht, dass alles gut wird, wenn die BVV weg ist. Aber schlimmer wird’s auf keinen Fall. Zumindest hätte Berlin 7,2 Millionen Euro übrig. Für direkte Bürgerbeteiligung. Für ein Liquid-Democracy-System welches – ähnlich wie in Friesland – von allen Bürgern zur Entwicklung und Abstimmung von Anträgen an das Bezirksamt genutzt werden könnte, wenn es denn vom Bezirksamt als verbindliche Antragsinstanz akzeptiert wäre.
Natürlich wird die Bezirksverordnetenversammlung sich nie selbst abschaffen. Das darf sie gar nicht.
Dies führt uns zwangsläufig zu meiner persönlichen Regel Nummer Drei.

Regel Nummer Drei
Ist diese Sache hilfreich? – Nein? – Dann Weiter!
Wenn sich etwas als überflüssig oder  kontraproduktiv erweist und du nichts daran ändern kannst, zieh weiter.

Nicht egal, nicht zu spät, weiter.

Seid nicht sauer Leute. Ich mach da nicht mehr mit. Ich bin raus. Ich lege mein Mandat als Bezirksverordnete in der Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin nieder. Das mindert den Bezirkshaushalt zwar nur um lächerliche 5.000 Euro im Jahr,  erlaubt mir aber Regel Nummer Drei einzuhalten und die Regelverstöße zu Nummer Eins und Zwei zu heilen.

Keine Sorge. Ich werde die frei gewordene Zeit & Energie nutzen um sinnvolle, nützliche und produktive Dinge zu tun.

Und immer dran denken:
Egal welch hehre Gründe dich dazu bewegen, egal wie gering die Wahrscheinlichkeit, dass du gewählt wirst auch ist, kandidiere niemals für etwas was du nicht wirklich willst.